26. Februar 2006 | Welt am Sonntag

Aus ihrem eigenen Schatten

Am Mittwoch ist Angela Merkel 100 Tage im Amt. Ihre erstaunliche Popularität verdankt sie jener Strategie, die sie schon an die Macht brachte: beharrliches Tiefstapeln.

Industrieszene bei Leipzig am Freitag. Zwischen zinkgrauen Zwölf-Tonnen-Konvertern, gefüllt mit glühendem, flüssigem Eisen, und der glimmenden Gußformen-Strecke einer Metallgießerei stehen ein Haufen Anzugträger und eine Bundeskanzlerin. Angela Merkel ist im kommunalen Wahlkampfeinsatz; in Leipzig wählen sie heute einen neuen Oberbürgermeister. Weil das offenbar hilfreich ist für den CDU-Kandidaten, läßt sich die Kanzlerin jetzt erklären, wie heutzutage Laster-Achsen gegossen werden oder Turbinenteile. Und lernt also: Soll etwas ganz aus einem Guß entstehen, dann kommt es auf die Form an. Entscheidend für dieselbe ist wiederum der "Kern", also die Innenkontur des späteren Produkts. Die äußere Form, aus Sand gebaut, ist nicht ganz so wichtig. Von außen ist die Gußform schwarz. Der Kern ist rot.

Das muß Merkel irgendwie bekannt vorgekommen sein. Die Sozialdemokraten nutzen dieses Bild ja gern derzeit, sie trösten sich damit über ihre schlechten Umfragewerte hinweg. Unter den Christdemokraten macht dieselbe Analyse eher als mürrische Bemerkung die Runde. Den einen ist, was bislang beschlossen wurde, zu rötlich eingefärbt, zu bürokratisch, "zu wenig Union". Sie schauen auf die Familien- oder die Haushaltspolitik der Koalition und entdecken nichts von sich selbst. Dann meckern sie über Franz Müntefering, den Vizekanzler und starken Mann der SPD. Andere beklagen, daß es in den ersten 100 Tagen der Regierung Merkel an der richtigen Richtung mangele. "Wir kriegen doch Beifall für eine Nicht-Reform-Politik", sagt eine CDU-Abgeordnete.

In vielen Politikfeldern herrsche Stillstand; man habe sich mit den Sozialdemokraten wirklich nur "auf den kleinsten gemeinsamen Nenner" geeinigt. Das Ergebnis könne ihr gar nicht gefallen. Außen jetzt schwarz, doch innen weiterhin rot. Es sind wenige Stimmen. Es gibt kaum jemanden, der Merkel öffentlich kritisiert. Die Kanzlerin ist jetzt nicht nur die Kanzlerin, also unweigerlich Chefin für die Bürgerlichen, nein: Sie schwimmt auch noch auf einer unerhörten Beliebtheitswelle. Vor allem die normalen Bürger sind geradezu begeistert von der kaum gewählten Kanzlerin. Die veröffentlichte Meinung steht nicht nach. Ständig wird gelobt, Angela Merkel habe auf dem internationalen Parkett bewiesen, daß sie zur Kanzlerin taugt - mit anderen Worten also das kann, was ihr vormals abgesprochen wurde. Natürlich, wird gleich kritisch eingewandt, stehe noch der Reformdurchbruch aus. Das werde schwierig, prophezeit die politische Weisheit.

Und Angela Merkel ja auch. "Wir sind in einer großen Koalition. Da können wir unsere Vorstellungen nicht alle voll umsetzen", hat sie am Freitag auf die Frage eines Werksangehörigen geantwortet. Es kämen bald sehr komplexe, sehr schwierige Diskussionen auf die Regierung zu. Man solle nicht allzu viel von ihr erwarten. Das sagt sie natürlich nicht. Aber das legt sie nahe. Sie macht es schon immer so, es fällt nur meistens nicht auf. Angela Merkel ist eine Meisterin der gezielten, termingerechten Erwartungsminderung. Wenn sie Widerstand erwartet oder Schwierigkeiten, dann macht sie sich klein, zieht sich zurück, vermeidet Festlegungen, Versprechen. Sie relativiert gern, was erreicht werden könnte. Sie läßt den Eindruck entstehen, sie könne auch scheitern.

Es klappt. Wenn sie dann zum Beispiel ihr Modell einer Gesundheitsprämie in der CDU durchsetzt oder einen Mann als Bundespräsidenten, den sie für geeignet hält, in ihrer Amtszeit Präsident zu sein, oder als Kanzlerin genauso selbstbewußt auftritt wie als Parteivorsitzende zuvor, dann sind alle ganz erstaunt. Obwohl doch eigentlich das jeweilige Gegenteil erstaunlich oder bemerkenswert gewesen wäre.

Im September 2005, am Wahltag, hat Angela Merkel wieder einmal erlebt, wie es ist, wenn es hohe Erwartungen gibt und wenn man sie enttäuscht. Es ist ihr danach nicht gut gegangen. Ihr politisches Schicksal hing an einem seidenen Faden. So etwas soll sich bitte nicht wiederholen. Angela Merkel hat sich kaum verändert im Kanzleramt, erzählen die Menschen, die in ihrer Umgebung arbeiten: "Sie ist, wie sie war", sagt eine Vertraute. Merkel habe jetzt weniger Zeit (und Geduld), komplizierte Fragen oder Argumente anzuhören. Sie müsse vorsichtiger sein mit dem, was sie öffentlich sagt. Aber sonst?

Merkel ist, wie sie war. Sie macht kühl Politik, mit emotionaler Distanz, unaufgeregt, dabei ungeheuer präsent, interessiert am Detail, extrem strategisch agierend. Man sagt ihr schon immer nach, sie würde ("als Physikerin") politische Prozesse vom Ergebnis her denken und planen. Es gibt andere, die eher von einer ziemlichen Hausfrauenschläue reden. Merkel hat nämlich die Begabung, komplexe Zusammenhänge pragmatisch zu sortieren. Sie steckt kühl ab, was wann erreicht werden kann. Sie wartet den besten Zeitpunkt ab, bevor sie sich in einer Debatte zu Wort meldet.

Falls überhaupt. Zu beobachten ist das jetzt im Bundeskabinett. Merkel leitet die Sitzungen der Regierung, aber sie gibt nicht das Alpha-Tierchen wie ihr Vorgänger und sein Stellvertreter. Die Minister melden sich zu Wort, es gibt Debatten. Merkel positioniert sich eher nicht, schon um niemanden zu brüskieren. Sie läßt die Minister ohnehin ihre Sachen machen, mischt sich nicht ein, fordert dafür aber kollektive Verantwortung ein. Im Vergleich zur Grobmotorik der Macht, die unter Gerhard Schröder herrschte, wirkt das auffällig zahm. Aber als Basta-Kanzlerin würde Angela Merkel eben nicht ernstgenommen werden.

Die Kanzlerin muß ihre Macht im Verborgenen lassen. Beim Tête-à-tête mit Müntefering räumt sie vor jeder Kabinettssitzung mögliche Konflikte aus oder vertagt sie. Und wenn mißliebige Ideen, Themen oder freilaufende Minister die Ruhe stören, dann nutzt sie ihre Netzwerke (oder ihr Handy, über das sie unaufhörlich SMS-Nachrichten verschickt), um die Übeltäter unauffällig einzufangen. Es sind dieselben Mechanismen, mit denen sie die CDU führte, und fast dieselben Personen. Noch immer umgibt sich Angela Merkel mißtrauisch vor allem mit Menschen, die absolute Loyalität garantieren. Querdenker sind ihr nicht wichtig, intellektuelle Überflieger eher suspekt. Offene Kritik, selbst aus den äußeren Umlaufbahnen der Unionsfraktion, wird per Verwarnung quittiert. Die Frage ist, ob das inhaltlich reicht. Die Ideenbasis wird ja nicht breiter.

Weil Merkel ihre Macht gern wie eine Feinmechanikerin betreibt, weil sie Lautlosigkeit und koalitionäre Harmonie über alles stellt, wirkt sie schnell beliebig. In Leipzig wurde sie gefragt, worin sich ihre Politik von der der Vorgängerregierung unterscheidet. Sie hat dann allerlei drittrangige Unterpunkte aufgezählt: die Umsetzung von EU-Richtlinien, den Bürokratieabbau, das Planungsbeschleunigungsgesetz. Als das Thema schon fast durch war, hat sie sich dann noch einmal zu Wort gemeldet: Sie habe gerade eben vergessen, die Senkung der Lohnnebenkosten zu erwähnen.

Das war eines der Hauptziele in ihrer Wahlkampagne. Das sollte den Standort Deutschland retten. Ist wohl in Vergessenheit geraten. Man kann nur hoffen, daß auch das zur Taktik gehört: daß Merkel jetzt ganz bewußt kein Aufheben um große Projekte und Ziele macht. Schließlich muß sie sich ja der öffentlichen Erwartung entziehen, bald würde ganz viel an Reformen passieren. Eine große öffentliche Aufregung müßte unweigerlich zu Verletzungen und Enttäuschungen führen: Den einen wird das Ergebnis zu hart sein, den anderen zu lasch. In einer großen Koalition ist so etwas tödlich. Angela Merkel wird die Öffentlichkeit also auch mit ihren Reformen überraschen, gar überrumpeln müssen. Das ist ihre einzige Chance in dieser Konstellation. Es darf nicht allzu sichtbar werden, wer wieviel bestimmt, wer was verloren hat - und wer besonders wichtig war für das Profil.

Im Gießwerk ist das übrigens ganz ähnlich. Wenn das flüssige, heißglühende Eisen in die Form gegossen wird, dann verwandelt die Hitze diesen wichtigen, festen, roten Kern. Aus dem fertigen Werkstück rieselt das Rot nur noch als purer Sand heraus.