29. Mai 2005 | Welt am Sonntag

Neue Merkel, neue Union

Angela Merkel ist auf dem besten Weg, erste Kanzlerin zu werden. Image und Partei hat sie schon verändert. Wird ihr das auch mit dem Land gelingen?

Schon aufgefallen? Sie wirkt seit ein paar Wochen irgendwie anders. Ihr Haar ist blonder, bunter, strähniger; ihre Frisur scheint femininer geschnitten, moderner. Neulich in Düsseldorf, als Angela Merkels Kopf bei einem Wahlkampfauftritt auf der Großbildleinwand auftauchte, da fühlten sich einige sogar an Hillary Clinton erinnert. Merkel sah ungemein dynamisch aus. Vielleicht lag es auch an ihren Augen: sorgfältiger geschminkt als in alten Zeiten, freundlicher deshalb und frischer. Knallblau. Sie leuchten in diesem Frühjahr, diese Merkel-Augen. Irgendwie ist sie jetzt anders.

Was ist nicht alles gesagt und geschrieben worden in all diesen Jahren. Merkel könne das nicht, Merkel schaffe das nicht, Merkel sei nicht populär genug. Sie sei das "Mädchen vom Kohl", ein gerade jetzt wieder sehr beliebtes Zitat: ein Bild wie ein politisches Todesurteil. Die "Pastorentochter aus Ostdeutschland" ist ein anderes dieser Etiketten, die so schwer abzulösen sind und gern mit gewissem Unterton zitiert werden. Es sind ja keine Fehlanzeigen. Auf gerade mal 15 Jahre alten Fotos ist Angela Merkel entsprechend zu bewundern: in all der biederen Unschuld des Glockenrocks, mit einem Gesicht von dankbarem Diensteifer, mit bewunderndem Blick für die jeweilige Vaterfigur.

Das ging nicht, natürlich nicht, da waren sich die Unionsstrategen an den Stammtischen mit vielen Journalisten einig. Die Leichtmatrosin aus Templin wäre keine Gegnerin für Gerhard Schröder und Joschka Fischer, haben sie gesagt (zuletzt noch laut im Wildbad Kreuth im Januar, bei der CSU-Landesgruppe, wo auch das Wort von der "Ostwachtel" die Runde machte). In diesen Tagen kann Angela Merkel darüber schmunzeln, wie dieselben Leute nun so tun, als müsse sich das Ehepaar Merkel dringend mit der Inneneinrichtung der Kanzlerwohnung beschäftigen. Als sei schon alles gelaufen; als ginge es allein noch um die Details der Kabinettsliste.

Merkel hat es immer vorausgesehen, daß die Zweifler verstummen werden. In einer bürgerlichen Oppositionspartei, die von der Macht weit entfernt ist, gehört Streit ums Führungspersonal, um Inhalte, um Strategien dazu - es gibt keinen Korpsgeist. Loyalitäten sind flüssig, solange man keine Gestaltungsmacht hat. Erst wenn die in Reichweite gerät, dann schart sich alles wieder brav hinter die Führung. In der Union ist Macht (oder die Nähe dazu) ein stabilisierendes Element. Plötzlich sind alle Merkelisten. Selbst Roland Koch hat sich am vergangenen Montag zu seiner Erzfeindin bekannt. So funktioniert die CDU.

Merkel hat es nicht dem Zufall überlassen, daß sie - und nicht Stoiber und nicht Koch und schon gar nicht Christian Wulff - als unbestrittene Kanzlerkandidatin vor den Reihen steht. Merkel überläßt eigentlich nie etwas dem Zufall. Sie darf nicht, sie kann nicht. In innerparteilichen Machtkämpfen hat sie noch nie darauf setzen können, daß eine Hausmacht sie schon durchbringen wird. Sie hat alles, was sie erreicht hat, mit kluger Taktik durchsetzen müssen, mit kurzlebigen Koalitionen, per Telefon und SMS. Sie ist immer mißtrauisch gegenüber Seilschaften gewesen, weil sie keiner angehört.

Wie sollte sie auch, bei der Biographie? Von allen Unionsgranden hat sie den ungewöhnlichsten Lebenslauf. Alle anderen sind Geschöpfe des Westens. Wenn sie über den Wert der Freiheit reden, klingt das nach Routine. Bei Merkel hingegen schwingt noch immer ein Pathos mit, das wohl nur der entwickeln kann, der vor allem die Unfreiheit kennengelernt hat. Herkunft und Sozialisation machten sie in ihrer eigenen Partei zur Außenseiterin, mühsam mußte sie sich mit Loyalisten umgeben.

Ihr Meisterstück und entscheidender Durchbruch ist die Kür des Bundespräsidenten im vergangenen Jahr gewesen. Horst Köhler ist von Anfang an Merkels Idealkandidat gewesen: Relativ unbekannt, radikal marktliberal, gesellschaftlich nicht allzu konservativ und nicht von so beeindruckender politischer Statur, daß er bedrohlich werden könnte. Einen Wolfgang Schäuble wollte Merkel nicht im Schloß Bellevue. Der hätte ihr sicher weizsäckerhaft dazwischengefunkt. Es hat geklappt. Köhler ist Präsident geworden, Merkel hat ihn durchgebracht, seitdem haben die Männer Respekt vor ihr. Sie haben einsehen müssen, daß die Partei- und Fraktionschefin - ganz Physikerin - bei diesem eigenartigen Schachspiel mehr Züge und Varianten vorausgesehen und vorbereitet hatte als die anderen. Das kann sie, so tickt sie.

Sie hat sich auf diese Weise die Union personell zurechtgebastelt, Schritt für Schritt, hat Gelegenheiten genutzt und kühl ihre Loyalitäten umgesteuert. Laurenz Meyers Abgang und Volker Kauders Aufstieg zum Generalsekretär, die Wahl Ursula von der Leyens ins Präsidium, der Austausch des etwas unbequemen Herrmann-Josef Arentz durch den ebenso populären wie lenkbaren Karl-Josef Laumann an der Spitze der CDU-Sozialausschüsse: All das hat Merkel mächtiger gemacht. Die lautesten Widersacher sind entnervt von selbst verschwunden. Friedrich Merz ist arbeiten gegangen, Horst Seehofer hat sich isoliert. Wenn sie erst die Mächtigste ist im Land, wird auch Michael Glos, der CSU-Landesgruppenchef, in Fahnentreue verfallen. Sonst wird er eben ausgebootet. So was kann sie. Merkel schließt in der Politik keine Freundschaften, in denen sie ewige Treue schwört.

Über die Karikatur von der männermordenden, skalpellsammelnden Karrieristin, die infolge ihres Aufstiegs entstanden ist, entrüstet sich Angela Merkel trotzdem. Sie findet sie ungerecht. Sie macht das, was andere in ihrer Situation genauso gemacht hätten; und sie hat es sich abgeguckt bei Leuten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Edmund Stoiber und Roland Koch, die auch über Leichen gegangen sind und wußten, wann es Sinn macht, einen guten Freund fallen zu lassen. Sie entrüstet sich aber auch, weil diese Karikatur etwas überdeckt. Angela Merkel hat schließlich nicht nur das Personal der Union umgestellt. Sie hat die Partei auch inhaltlich verändert. Das wird leicht übersehen, wenn man jetzt zu Recht beklagt, daß die Union weit davon entfernt ist, ein sinnvolles, abgerundetes Regierungsprogramm vorlegen zu können. Das geht unter, wenn zu Recht kritisiert wird, es sei längst nicht alles ausgegoren, was das bürgerliche Lager mit Deutschland vor hat ab Herbst.

Aus der alten, heute etwas bleiern wirkenden, konservativen, rheinischen Kohl-CDU aber ist unter Angela Merkel still und heimlich eine "neue Union" geworden. Der Begriff stammt von ihr selbst. Sie hat ihn in der Haushaltsdebatte im September 2004 benutzt, damals ohne Erfolg. Er hat sich nicht durchgesetzt, weil Merkel ihn lediglich mit dem etwas albernen Versprechen verband, in Zukunft "Politik aus einem Guß" anbieten zu wollen. Gut ist der Begriff trotzdem. Merkel hat die Union gesellschafts- und sozialpolitisch weit von ihren Wurzeln entfernt. In der Familien- und Frauenpolitik vertritt die Union heute Positionen, die noch vor fünf Jahren undenkbar schienen; in der Ausländerpolitik hat sie sich völlig neu orientiert, kulturell geöffnet. Frappierender, weil deutlicher ablesbar noch ist der Wandel "von der Blümschen zu einer Laumannschen Sozialpolitik", wie Merkel das gern nennt, oder die "Entsozialdemokratisierung" der Union, wie Merz im vergangenen Jahr polemisierte. Dort vor allem zeigt sich Merkels Profil.

Die Kopfpauschale (für Unionsgetreue: die Gesundheitsprämie) ist das reinste Kind des ordnungspolitischen Gedankens: Ein Einheitspreis für die Krankenversicherung, bezahlt von jedermann, abgehängt von den Lohnnebenkosten. Merkel hat diese Idee früh ins Herz geschlossen. Die einfache Klarheit des Modells hat ihr gefallen, so wie bei Friedrich Merz die Simplizität seines Steuermodells. Sie hat sich schnell für die Idee Karl-Josef Laumanns erwärmt, das deutsche Arbeitsrecht komplett im Archiv abzulegen und eine Handvoll neuer, einfacher Regeln zu finden. Das Ordnungspolitische entspricht Merkels Hang zu strukturiertem Denken.

Es hat nicht geklappt, nicht mit dem einen noch mit dem anderen. Die Kopfpauschale ist inzwischen zu einer hochkomplexen Teilprämienlösung mit Ausgleichsfond mutiert, reinster ordnungspolitischer Unsinn. Der Bierdeckel steht nunmehr unter schärfstem Finanzierungsvorbehalt. Das Arbeitsrecht wird angefaßt, wenn man mal Zeit dafür hat.

Man sollte sich davon nicht täuschen lassen. Merkel weiß genau, daß sie nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen darf: Sie wird nie wie Maggie Thatcher wirken können, weil sie nie über vergleichbare Macht verfügen wird. Sie muß immer den Sozialflügel mitnehmen, immer der CSU ihr Spezialprofil erlauben und ihren Ministerpräsidenten ein bißchen Auslauf lassen. Merkel kann und wird die Bundesrepublik nicht in ein neoliberales Experimentierfeld verwandeln können: das hält selbst die "neue Union" nicht aus.

Aber der Kurs steht für sie fest, die Richtung ist klar. Merkels Guru heißt Hans-Werner Sinn, ihre Bibel sein Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" Sie ist davon überzeugt, daß das Land einer radikalen Reform bedarf, bevor es sich erholen kann. "Wir durchleben nicht einfach eine Konjunkturkrise, wir durchleben auch nicht einfach eine Strukturkrise", hat sie schon vor zwei Jahren gesagt, bei ihrer Rede zum 3. Oktober 2003 im Hof des Deutschen Historischen Museums. Sie spricht häufig von der Freiheit und davon, daß sich das Land in seinem Bemühen um Gerechtigkeit und Solidarität eine Regelungsdichte zugelegt hat, die Freiheit, die Kreativität und Initiative erstickt. Deutschland modernisieren: Das ist ihr Projekt.

So bleibt, was Merkel will, ein bißchen noch im Ungefähren für die Öffentlichkeit. Angela Merkel neigt nicht zu Visionen. Sie mag derzeit wieder erklären, daß die Deutschen zu Opfern bereit sind, wenn es nur einen Lichtstreifen am Horizont gibt. Aber wie genau das Wetter wird, wie blühend die Landschaften, davon redet sie nicht. Das ist eben nicht ihr Ding. Merkel konzentriert sich lieber auf den nächsten nötigen Schritt. Im Moment ist das nicht der Umbau der Bundesrepublik, sondern die Eroberung des Kanzleramts. Sie weiß, daß nichts entschieden ist. Sie hat zwar keine Angst mehr vor Franz Müntefering, sie glaubt nicht mehr an die mediale Überlegenheit von Kanzler und Vizekanzler, aber sie weiß auch, wie leicht das Publikum beeinflußbar ist.

Merkel braucht nur in den Spiegel zu gucken. Alle sehen sie jetzt mit neuer Frisur. Neu ist die aber gar nicht. Die ganze Welt sieht Merkel nur jetzt plötzlich mit anderen Augen.